Der Unsinn der Verknüpfung von Zielvereinbarungen mit variablen Gehältern

5. Januar 2018 in Unternehmenskultur

Ich habe in den letzten Jahren kontinuierlich schlechte Erfahrungen mit Zielvereinbarungen und deren Verknüpfung mit variablen Gehaltsbestandteilen gemacht. Aus diesem Grund habe ich viel über dieses Thema gelesen und versucht, die Motivation zu verstehen, die hinter der Nutzung steht. Vor allem wollte ich verstehen, was sich Führungskräfte vom Einsatz erhoffen und wie die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und psychologischen Hintergründe aussehen und welche Hindernisse dem Erreichen der Ziele am Ende im Weg stehen.

Zielvereinbarungen können ein sehr sinnvolles Mittel sein, um alle Mitarbeiter “an einem Strang ziehen zu lassen”. Eine variable Vergütung auf der Basis von Umsätzen oder Gewinnen der Firma ist ebenfalls kein Problem - die Verteilung eines Teils des unternehmerischen Risikos auf die Führungskräfte ist absolut legitim und nachvollziehbar. Eine eingehende Betrachtung der Zusammenhänge hat aber ergeben, dass die Nachteile der Verknüpfung von Zielvereinbarungen mit variablen Gehältern deutlich die möglichen Vorteile überwiegen.

Vorstellungen über den Nutzen

Je nach Interessenlage scheinen sich Führungskräfte ein Verfahren vorzustellen, mit dem folgende Ziele erreicht werden können:

  • die operativen Unternehmensziele sollen top-down auf die Schultern der Mitarbeiter verteilt werden
  • sie können mit Zielvereinbarungen die im Unternehmen schlummernde Kreativität und die Motivation ihrer Leute wecken
  • sie schaffen die Basis und einen Maßstab für ein gerechteres und stärker ergebnisorientiertes Gehaltssystem
  • sie wollen mit Zielvereinbarungen Personalentwicklung betreiben, indem sie den einzelnen Mitarbeiter für seine persönliche und fachliche Weiterentwicklung explizit mitverantwortlich machen.

Unerwünschte Effekte

Wie alle Mittel können auch Zielvereinbarungen eine Reihe von unerwünschten Effekten haben:

  • Die jährliche Zielvereinbarungsprozedur erinnert eher an eine Verhandlung zwischen gegnerischen Parteien.
  • Es entwickeln sich Abschottungstendenzen zwischen einzelnen Bereichen. Die Zusammenarbeit und Kommunikation z.B. zwischen Software-Entwicklung und dem Betrieb von Software wird schwieriger, weil beide Seiten auf die Erreichung ihrer jeweiligen Ziele achten und die Erreichung auf der einen Seite die Ziele der anderen Seite gefährdet und umgekehrt.
  • Der erhoffte gegenseitige Vertrauensschub zwischen Mitarbeitern und ihren Führungskräften bleibt aus oder kehrt sich sogar ins Gegenteil.
  • Die vereinbarten Ziele wirken selbstverständlich bis langweilig und geben weder dem einzelnen noch dem Unternehmen nennenswerte Impulse.
  • Der Prozess wird vom mittleren Management als zusätzliche Belastung empfunden und sehr formal durchgezogen. “Es ist schon wieder so weit. Wir müssen …”
  • Die Zielvereinbarungen definieren keine Ziele, die größeren Zielen des gesamten Unternehmens dienen - schlimmstenfalls erhalten verschiedene Mitarbeiter Ziele, die sich sogar gegenseitig widersprechen.

Beispiele

Zur Veranschaulichung der Problematik werden hier nun einige reale Beispiele aufgeführt, die ich selbst erlebt habe oder die mir aus erster Hand von Kollegen berichtet wurden:

  • Ein Mitarbeiter bekommt als persönliches Ziel eine Vorgabe für das Kostenstellenergebnis. Im gesamten folgenden Jahr arbeitet der Mitarbeiter überdurchschnittlich viel zu überdurchschnittlich hohen Stundensätzen in einem Projekt, welches ihn an seine physische und psychische Grenze bringt. Das Fachgebiet erreicht das Kostenstellen-Ziel aufgrund anderer Projekte aus einem anderen Teilbereich des Fachgebiets aber nicht. Aufgrund dieser verfehlten Ziele werden die persönlichen Ziele des Mitarbeiters nicht erreicht und daher wird auch der Prämienanteil an den Unternehmenszielen bei 100% gekappt. Ergebnis: der Mitarbeiter hat sehr viel und sehr hart gearbeitet und nichts falsch gemacht und bekommt trotzdem nur 80% seiner Prämie. Ergebnis: der Mitarbeiter ist enttäuscht, sauer und demotiviert.
  • Ein Mitarbeiter bekommt als Ziel, dass alle Projekte in seinem Umfeld im Schnitt zu einem Gewinn von x% führen. Der Mitarbeiter kann aber einige der Projekte nicht beeinflussen, da er nicht entscheidend mitarbeitet. Am Ende des Jahres bekommt er seine Prämie für dieses “persönliche” Ziel nicht ausgezahlt, da es nicht erreicht wurde. Er konnte die Erreichung aber nicht beeinflussen. Ergebnis: der Mitarbeiter ist enttäuscht, sauer und demotiviert.
  • Der Mitarbeiter lernt daraus und im folgenden Jahr wird das Ziel eingeschränkt auf Projekte in denen er mindestens 15% der Gesamtleistung erbringt, so dass er die Möglichkeit hat, einen genügend großen Einfluss auf das entsprechende Projekt auszuüben. Einige Monate später gibt es in einem Projekt seiner Kollegen eine Reihe von Problemen, bei deren Lösung er entscheidende Beiträge leisten könnte. Hilft er den Kollegen, so steigt sein Anteil in einem finanziell angeschlagenen Projekt auf über 15% und er wird seine Prämie nicht bekommen. Hilft er nicht, so wird das Projekt finanziell noch schlechter laufen und der Kunde wird unzufrieden sein aber der Mitarbeiter bekommt seinen Bonus, muss aber mit dem schlechten Gewissen gegenüber Kollegen und Kunden leben. Ergebnis: sowohl der Mitarbeiter als auch das Unternehmen verlieren in beiden Szenarien.
  • Ein Vertriebsmitarbeiter bekommt ein Jahresziel für den Auftragseingang, merkt im September, dass das Ziel unmöglich erreichbar ist und “verschiebt” einige der Aufträge ins nächste Jahr (den Bonus für dieses Jahr bekomme ich sowieso nicht, den für nächstes Jahr dann aber viel wahrscheinlicher). Ergebnis: der Mitarbeiter ist demotiviert und arbeitet gegen die Interessen der Firma.

Der Kobra-Effekt aus der Zeit der britischen Kolonialherrschaft in Indien ist eine geschichtliche Anekdote: Damals setzte der britische Gouverneur aufgrund einer Schlangenplage eine Prämie auf tote Schlangen aus. Die Folge: Die Leute haben die Giftschlangen gezüchtet, um immer mehr tote Tiere abliefern zu können.

Konkret identifizierte Probleme

Dieser Abschnitt beschreibt die Probleme, die ursächlich für die Diskrepanz zwischen den Vorstellungen über den Nutzen und die realen Effekte sind.

Korrumpierungseffekt

Der Korrumpierungseffekt bezeichnet die Verdrängung von primärer Motivation durch sekundäre Motivation. Anders formuliert wird das Handeln aufgrund eines inneren Antriebs („intrinsische Motivation“) verdrängt durch das Handeln aufgrund von Belohnungen oder Folgen, die außerhalb der Tätigkeit liegen („extrinsische Motivation“). Fällt der äußere Anreiz weg, reduziert sich auch das ursprünglich gerne und freiwillig gezeigte Verhalten. Man spricht auch vom Verdrängungseffekt, wobei die Verdrängung einer Motivation durch eine andere gemeint ist. Es kann durch die Gabe eines äußeren Anreizes (extrinsische Motivation) zu einer kurzfristigen Steigerung des bestärkten Verhaltens kommen. Fällt der Anreiz dann aber weg, sinkt die Motivation jedoch unter das ursprüngliche Ausgangsniveau. Intrinsische Motivation kann nur korrumpiert werden, wenn sie vorhanden und groß genug ist. Ist das Anfangsinteresse ohnehin gering, können äußere Anreize hingegen funktionieren. Ebenso ist es möglich, dass bei nicht erwarteten Belohnungen kein negativer Effekt auftritt.

Ausbleiben der Belohnung

Richtig gefährlich wird es, den Bonus einmal nicht zu zahlen. Eine Prämie, die erwartet wird, aber in einer vergleichbaren Situation ausbleibt, hat einen höheren negativen Effekt als eine Bestrafung.

Verhaltenskontrolle

Bei leistungskontingenten Belohnungen findet ein erhöhtes Ausmaß an Verhaltenskontrolle statt, welches sich negativ auf die intrinsische Motivation auswirkt.

Messbarkeit

Bei der Verknüpfung von Zielen mit variabler Vergütung ist eine exakte Messbarkeit notwendig. Nur so kann sowohl der Mitarbeiter als auch der Vorgesetzte vorhersagen bzw. nachvollziehen, ob bzw. in welchem Umfang ein Ziel erreicht wurde und die Höhe des zu zahlenden Bonus genau berechnet werden. Viele Ziele sind allerdings nicht exakt in Zahlen messbar. Z.B. ist der Aufbau von Know-How im Bereich “Entwicklung für die Cloud” oder das Sammeln von Erfahrungen im Bereich “DevOps” nur unscharf messbar und kaum in exakte Zahlen zu fassen. Daher sind solche Ziele in vielen Unternehmen keine Kandidaten für Zielvereinbarungen.

Auf der anderen Seite sind messbare Ziele wie z.B. “die Projekte führen im Schnitt zu einem Gewinn von x%" ungeeignet, um Visionen umzusetzen oder neue Tätigkeitsfelder zu entwickeln.

Handeln aus Überzeugung

Ein Mitarbeiter wird für die Erreichung eines Ziels erst dann mit vollem Einsatz arbeiten, wenn er vom Sinn des Ziels überzeugt ist. Ein Vorgesetzter sollte also grundsätzlich in der Lage sein, einen Mitarbeiter vom Sinn eines Ziels zu überzeugen. Kann der Mitarbeiter nicht überzeugt werden, so muss man sich fragen, ob der Vorgesetzte selbst überzeugt ist.

Verdeckung von Fakten

Immer wieder sehe ich in Zielvereinbarungsdokumenten Ziele, die dazu führen, dass Fakten verdeckt oder verschleiert werden und so nicht zu Verbesserungen im Unternehmen genutzt werden können.

Bei einigen Unternehmen wird z.B. jährlich eine Mitarbeiterbefragung über deren Zufriedenheit mit den Arbeitsumständen, den Vorgesetzten usw. durchgeführt. Die Ergebnisse könnten sehr gut genutzt werden, um die Mitarbeiter zufriedener zu machen, die Fluktuation zu senken, Prozesse zu verbessern und vieles mehr. Um diese Ziele zu erreichen, werden die Ergebnisse der Mitarbeiterbefragung nun Teil von Zielvereinbarungen, so dass der Vorgesetzte motiviert werden soll, hart daran zu arbeiten. Stattdessen oder zumindest zusätzlich wird der Vorgesetzte die Mitarbeiter auffordern, eine gute Bewertung abzugeben und evtl. die reale Situation zu beschönigen, so dass der Vorgesetzte am Ende des Jahres seinen Bonus bekommt. Falls die Mitarbeiter ein gutes Verhältnis zum Vorgesetzten haben, sind die Ergebnisse der Befragung damit nutzlos und die Mitarbeiterbefragungen führen zwar zu Kosten aber nicht zu einem realen Nutzen.

Verbesserungsvorschläge

Nun wurde genug über die Probleme gesagt - im Folgenden wird eine Reihe von Vorschlägen aufgelistet, die die Probleme beheben sollen und gleichzeitig die gewünschten positiven Effekte erhalten sollen.

  • Der Zielvereinbarungsprozess sollte vom bestehenden Vergütungssystem getrennt werden. Zielvereinbarungsgespräche sollten um mehrere Monate versetzt zu Gehaltsverhandlungen geführt werden. Es sollte deutlich gemacht werden, dass es keine unmittelbare Kausalität gibt zwischen den vereinbarten Zielen einerseits und den Ergebnisvorgaben andererseits, die Grundlage eines Erfolgsanteils sind.
  • Die Entkopplung des Zielvereinbarungsprozesses vom Vergütungssystem führt dazu, dass die Ziele nicht mehr exakt messbar sein müssen sondern auch unscharf als erreicht oder weniger erreicht erkannt werden dürfen. Messbarkeit ist nicht alles - ein ausführliches Gespräch über das Ziel ist für ein gemeinsames Verständnis wichtiger als eine Kennzahl. Für die wichtigsten Ziele lassen sich oft erst nach und nach (wenn überhaupt) sinnvolle Maßeinheiten finden. Sätze wie: “schade, wir können es nicht als Ziel aufnehmen, weil es sich nicht richtig messen lässt” sollten damit der Vergangenheit angehören.
  • Die Überzeugung vom Sinn eines Ziels sollte eine viel größere Rolle spielen. Wenn bei jedem Zielvereinbarungsgespräch angefangen beim Geschäftsführer darauf geachtet wird, dass beide Seiten nach dem Gespräch vom Sinn eines Ziels überzeugt sind, dürften keine Ziele “weitergereicht” werden, von denen der jeweilige Vorgesetzte nicht überzeugt ist (und so selbst nicht in der Lage ist, andere Personen zu überzeugen).

Zusammenfassung

Die Innovationskraft einer Firma ist gefährdet, wenn Zielvereinbarungen an die variable Vergütung geknüpft werden. Dabei ist diese Verknüpfung gar nicht notwendig: entweder sind die Leute intrinsinsch motiviert (in diesem Fall brauchen sie keine Zielvereinbarungen und sie sind mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar kontraproduktiv und demotivierend) oder sie sind unmotiviert und damit für kreative Positionen ungeeignet - Zielvereinbarungen helfen da sicher auch nur sehr begrenzt weiter. Die Verknüpfung von Zielen mit variablen Gehaltsbestandteilen führt dazu, dass die Zielerreichung mathematisch exakt messbar sein muss. Dadurch scheiden sinnvolle aber nicht exakt messbare Ziele aus. Stattdessen werden weniger sinnvolle aber messbare Ziele vereinbart. Damit wird die Innovationskraft gemindert.

Quellen

Getaggt in:
zielvereinbarungen motivation korrumpierungseffekt
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